Wo Stadtluft wirklich etwas freier macht

Mehr Grün war selten: Ein Blick in die Amerikanische Siedlung Plittersdorf.

 

Versuchen Sie es doch einmal mit einem Experiment: Fragen Sie jemand im Bekanntenkreis, ob er oder sie sich vorstellen könnte, in eine Siedlung zu ziehen, die 1951 errichtet worden ist. Wahrscheinlich wird die Antwort von hochgezogenen Augenbrauen begeleitet sein: Freiwillig in ein Wohnsilo aus den Nachkriegsjahren? Das ist doch sicher alles schnell und billig hochgezogen worden, spießig, bonjour tristesse. Mit einiger Sicherheit vorhersagen lässt sich diese Reaktion, weil Sie auf einem kollektiven Wissen aufbaut, das wir alle teilen.

Doch es wird Zeit, genau das zu korrigieren. Gehen Sie also gemeinsam in den Bonner Süden, nach Plittersdorf. Am südlichen Ende der Rheinaue zweigt nach links bogenförmig die Kennedyallee ab, nochmal nach links geht es kurz darauf in die Europastraße. Es sollte sofort auffallen, dass man hier einen anderen Teil der Stadt betritt – und einer Vergangenheit begegnet, die bisher fast nichts von Ihrer Aktualität und ihrem Reiz verloren hat.

In der „Amerikanischen Siedlung“ in Plittersdorf ist Großzügigkeit der hervorstechende Eindruck, die Weite und die Vielfalt der Bäume ist beeindruckend. Fällt der Blick dann noch auf die Stimson Memorial Chapel, könnte man endgültig meinen, man sei auf dem Campus einer amerikanischen Universität (wie dem der Highpoint University) gelandet. Errichtet wurde die Anlage zunächst für die Besatzungsmacht, für amerikanische Mitarbeiter der „Hohen Kommission“ (HiCoG). Maßgeblich geprägt hat Ihre Gestalt jedoch der Münchner Sep Ruf, der Architekt des Bonner Kanzlerbungalows. Die lokalen Gartenarchitekten Hermann Mattern und Heinrich Raderschall gaben den an sich schlichten Bauten, denen Luxus weitgehend abgeht, einen grünen Zusammenhang. Das alles gibt der Siedlung eine ganz eigene Atmosphäre und macht sie zu einem Ort mit hoher Lebensqualität.

Mit der Reutersiedlung schloss der Architekt Max Taut an die Ideale der Gartenstadt an.

So konnte also die Nachkriegszeit in Bonn aussehen? Ja, und es gibt noch mehr davon. Die Reutersiedlung wirkt, obwohl die großen Ausfallstraßen nicht weit sind, fast dörflich. Die Idee der Gartenstadt aus der Zeit um 1900 tritt hier besonders deutlich wieder zutage. Bei den HiCoG-Siedlungen in Muffendorf und Tannenbusch dominiert das moderne Gepräge einer Zeit, die von Grund auf neue Stadtvisionen zu Papier gebracht hat und sie manchmal auch realisieren konnte. Natürlich hat es seit den 1970er Jahren viel Kritik an solchen Neuplanungen „auf der grünen Wiese“ gegeben. Sie war oft berechtigt und aus ihr speisen sich auch die geläufigen Vorurteile. Bei den Bonner Beispielen aus den Fünfzigern greift das allerdings noch nicht. Sie entstanden noch vor dem Überdrehen der Bauwirtschaft und tragen jeweils eine baukünstlerische Handschrift, die ein bloßes „Quadratmeter-Denken“ gar nicht kennt. Gemeinsam ist den vier Bonner Siedlungen vor allem, dass sie (noch) nicht als Großsiedlungen geplant wurden. Der Maßstab bleibt überschaubar, die grünen Freiflächen haben klare Begrenzungen.

Dort, wo in späteren Wohnanlagen diese Eigenschaften fehlen, ist Veränderung doppelt sinnvoll. Die sogenannte Nachverdichtung, das Einfügen weiterer Bauten auf Freiflächen, kann dann klarer konturierte Räume hervorbringen und ist auch ökologisch sinnvoller, als erneut anderswo Neubaugebiete auszuweisen. Natürlich sind auch bei den Bonner Beispielen Veränderungen nicht ausgeschlossen, in Abstimmung mit dem Denkmalschutz, den alle Anlagen genießen, versteht sich. Aber ihre Qualitäten sind fragil und können auch schnell abhanden kommen. Deshalb geht es jetzt darum, sich bewusst zu machen, dass diese Wohnlandschaften nicht dem Klischee, das in allen Köpfen sitzt, entsprechen. Sie sind nicht nur eine Verfügungsmasse, sondern ein kulturelles Erbe, dessen zukünftige Bedeutung wir noch gar nicht absehen können. Oft wird heute die Frage gestellt, „wie wir eigentlich leben wollen“. Selbst wenn die Antwort nicht mehr genau die sein kann, die hier vor gut 60 Jahren gegeben wurde: Es lohnt sich trotzdem, von den alten Ideen zu wissen und auf ihnen aufbauen zu können.

Das am Anfang beschriebene Experiment muss übrigens keine Theorie bleiben: Kommen Sie am 15. Juli zum Aktionstag  „Reihenweise Kulturerbe | Bonner Siedlungen neu entdecken“, den die Werkstatt Baukultur zusammen mit den Kolleginnen und Kolleginnen der Vereine und Initiativen, die sich vor Ort für die Bonner Nachkriegs-Siedlungen einsetzen, organisiert. Es wird eine Erkundung zum Augenöffnen und auch zum Genießen.